Kickplan Campus

Wissen rund um den Kinderfußball

Made in England - Wettspielsystem und Ausbildung im Mutterland des Fußballs - Interview mit Tim Kübel

Immer mehr englische Nachwuchstalente finden den Weg in die europäischen Profiligen. Grund genug, dass wir uns mit der Fußballausbildung und dem Juniorenspielbetrieb auf der Insel beschäftigen. Wir haben Tim Kübel interviewt, Doktorand an der Loughborough University London und beim FC Chelsea. Der studierte Sportwissenschaftler, früher selbst Spieler bei Borussia Dortmund, Schalke 04 und dem FC Toronto, hat sieben Jahre Trainererfahrung in Nordamerika im Elite College Soccer und im Profibereich gesammelt. Er schildert uns seine Erfahrungen in England und seine Vorstellungen von einer ganzheitlichen Spielerentwicklung.

Thomas: Tim, was würdest du dir weltweit für eine Gestaltung des Kinderfußballs wünschen?

Tim Kübel: Ich wünsche mir eine Ausbildung auf einer Linie mit der wissenschaftlichen Literatur sowie meinen persönlichen Erfahrungen in NLZs. Im Kinderfußball muss es um eine langfristige, zielgerichtete Entwicklung gehen. Dafür muss man sich seiner Ziele komplett im Klaren sein und diese versuchen, systematisch zu erreichen. Man sollte definieren, welche technischen, taktischen, physischen, sozialen und psychologischen Kompetenzen man ausbilden will und wie man sie implizit und explizit umsetzen kann. Das funktioniert prinzipiell beim Breitsensportclub mit dem Schwerpunkt auf Spaß, Partizipation und soziale Aspekte genau so gut wie beim Profiverein mit Leistungsansprüchen und anderen Herausforderungen (z.B. De-selektion, zu frühe Professionalisierung) .
Thomas: Welche konkreten Veränderungen stellst du dir vor?

Tim Kübel: Das Spiel soll wieder in den Vordergrund rücken, weniger statisches Passen trainiert und mehr gedribbelt werden. Oft wird in der F-Jugend im 7v7 das Dribbeln als eigensinnig bezeichnet, aber im 3v3 als coole Einzelaktion angesehen. Fakt ist, dass die besten Nationen starke Dribbler haben. Ein Grund dafür sind in meinen Augen die alternativen Wettkampformate, in denen Dribbeln ein wichtiger Bestandteil ist, um Linien zu überwinden. Das Dribbling wird gleichberechtigt neben dem Pass gefordert - und nicht nur der Pass allein. Mein persönliches Herzens- und Promotionsthema ist es, die Person des Spielers in den Mittelpunkt der Ausbildung zu stellen. Man sollte nicht nur auf die fußballerischen Fähigkeiten, sondern ebenso auf die soziale und persönliche Entwicklung achten. Generell müssten mehr Möglichkeiten des freien Fußballspielens für junge Kicker geschaffen werden, denn nichts geht über das Spielen. Mehr Kunstrasenplätze und Minicourts in Stadtteilen und Schulen sind wünschenwert, um die Spielzeit angesichts der Konkurrenz von anderen Sportarten und Medienwelt zu erhöhen und Lifeskills auszubilden, um jungen Menschen zu helfen, auch abseits des Fußballs in der Gesellschaft erfolgreich zu sein.
Thomas: Wie wird in England am Wochenende im Kinderfußball gespielt?

Tim Kübel: In England muss man zwischen Grassroots Football (Basisfußball) und Academy Football (Leistungsfußball)  unterscheiden. Ich habe bisher nur Erfahrungen mit dem Academy Football gemacht. In den Akademien wird zeitgleich gespielt. Mehrere Mannschaften aus einer Akademie reisen mit einem Bus an, z.B. U9, U12  und U14 oder U16 und U18. Gespielt wird oft 3 x 30 oder 4 x 30 Minuten, um allen Spielern genügend Spielzeit zu geben. Ergebnisse werden zwar notiert, spielen aber bis zu den oberen Altersbereichen eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird vor allem bewertet, wie die Mannschaft unabhängig vom Ergebnis gespielt hat, welche  aktuellen Entwicklungsziele für einzelne Spieler und Mannschaft bereits umgesetzt wurden.
Anmerkung der Redaktion zum Grassroots Football in England
In England spielen die Kinder im Grassroots Football (Basisfußball) am Wochenende Turniere in flexiblen kleinen Spielformen (Mini Soccer) nach einem festgelegten Regelwerk. Die Anzahl der Turniere mit Wettbewerbscharakter ist pro Saison auf ein Maximum beschränkt, um mehr freie Spiele ohne Leistungsdruck zu fördern. U7/U8 dürfen maximal im 5 gegen 5 spielen, U9/U10 maximal im 7 gegen 7. Den Trainern ist vorgeschrieben, sich vor Ort auf kleine Spielformen zu einigen, die allen Kinder gleichzeitig das Mitspielen ermöglichen. Treffen sich z. B. 2 Mannschaften der U8 mit je 7 Spielern soll nicht 1 x 5 gegen 5 mit Ersatzspielern, sondern 1 x 3 gegen 3 und 1 x 4 gegen 4 gespielt werden. Das Mini Soccer Handbook sieht außerdem eine Überzahlregel zum Stärkeausgleich ( Power Play Law) vor. Beim Stand von 0:4 spielt das unterlegene Team mit 1 Spieler in Überzahl, beim Stand von 0:6 mit 2 Spielern in Überzahl.
Weitere Infos über den Kinderfußball findet ihr auf der
Website England Football. 
Thomas: Wie funktioniert die Organisation des Wettspielbetriebs in England? Ab wann gibt es Tabellen?

Tim Kübel: Im Academy Football übernimmt die Premier League die Organisation, an spielfreien Wochenenden machen es die Vereine selbst. Tabellen gibt es erst ab der U18. Wir haben allerdings Wettkämpfe bzw. Turniere, die über mehrere Wochen gehen, ab der U9 bis zur U18, z. B. Nationals, Qualifikationsturniere, Futsal und andere regionale, nationale und internationale Wettbewerbe. Spiele werden öfters auch unter der Woche angesetzt, um Spielern Spielpraxis und Entwicklungsmöglichkeiten unter Wettkampfbedingungen zu geben. Diese Wettkämpfe sind sehr individualisiert, basierend auf der Altersstufe/Phase (Foundation, Youth Development, Professional Development Phase).
Thomas: Welche Merkmale zeichnen für dich ein gutes Wettspielsystem für Kinder aus?

Tim Kübel: In England merkt man, dass Spiele zwar gewonnen werden sollen, aber nicht um jeden Preis. Insbesondere im jungen Alter stehen die Entwicklung und der Spaß im Vordergrund. Guten Wettkampf verbinde ich mit dem Sprichwort „iron sharpens iron“ (dt.: „Eine Klinge schärft die andere.“). Eine optimale sportliche Entwicklung sehe ich bei Wettkämpfen von Mannschaften mit einem ähnlichen Leistungslevel. Wenn ich an meine Jugendzeit im Schwarzwald zurückdenke, habe ich mich selbst am meisten entwickelt, als wir Wettspiele auf einem homogenen Level hatten und meine Mannschaft nicht 2:11 verloren (wie gegen Bayern München in der U17-Bundesliga) oder 21:1 gewonnen hat (wie in F-Jugend gegen einen Nachbarverein). Zudem sollte der Wettbewerb variabel sein und speziell in unteren Altersbereichen für flexible Spielformen sorgen. In jungen Jahren sollte hauptsächlich 3v3 oder 4v4 mit vielen  Ballaktionen gespielt werden, später machen auch größere Felder Sinn, z. B. um Tiefenpässe und Flanken zu trainieren. Das Ergebnis am Wochenende darf nicht über dem langfristigen Entwicklungsziel der einzelnen Spieler stehen.
Thomas: Wie beurteilst du den Einfluss des englischen Wettspielsystems auf die sportliche Entwicklung der Kinder?

Tim Kübel: Sehr positiv. Es steht ganz klar die Entwicklung des Spielers im Vordergrund. Es ist nicht so wichtig, jedes Wochenende das Spiel zu gewinnen, sondern die Trainer können sich darauf konzentrieren, Spielprinzipien und andere Trainingsinhalte zu entwickeln. Auch die noch nicht so weit entwickelten Spieler bekommen genügend Spielzeit. Das heißt allerdings nicht, dass Gewinnen nicht wichtig ist. Ziel ist es immer, jedes Spiel zu gewinnen, aber eben nicht um jeden Preis. Siegermentalitat und Game-Management werden parallel in zahlreichen anderen Wettkämpfen entwickelt (z.B. Futsal, Nationals, internationale Turniere).
Thomas: Worauf legt der FC Chelsea bei der Ausbildung von Kindern besonderen Wert?

Tim Kübel: Einfach formuliert: Dass bei der Ausbildung vor allem die Person des Spielers im Mittelpunkt steht. Entscheidungen sollen immer so getroffen werden, dass sie der Entwicklung des Spielers helfen - von Individualtraining über Altersklassenwechsel bis hin zum Verleihen des Spielers.  Der Verein hat einen altersgerechten und methodisch aufgebauten Entwicklungsplan, den Trainer und Stab gemeinsam verfolgen. 
Thomas: Wie nimmst du mit all deinen Erfahrungen im Fußball die Spielerausbildung in England wahr?

Tim Kübel: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, habe in den USA gespielt und trainiert, und bin jetzt einige Jahre in England unterwegs. Selten habe ich so gute Talentwicklungsansätze gesehen wie hier in England. Ich habe wirklich das Gefühl, dass die Entwicklung von Spielern im Vordergrund steht und eben nicht Resultate. Resultate sind zwar nicht unwichtig, aber es geht auch um andere Dinge wie eben die Entwicklung von Spielern für die eigene erste Mannschaft oder den allgemeinen Profibereich, nach denen Trainer evaluiert werden. Es passieren bereits sehr viele gute Dinge in Deutschland, die richtig sind und den Nachwuchs fördern. Der nächste Schritt muss sein, ähnlich wie durch den EPPP in England ein vereintes Konzept für die Entwicklung von Talenten in Deutschland zu erarbeiten. Und das muss von Seiten des DFB, der NLZ-Vereine, der Verbände sowie der Breitensportvereine gemeinsam geschehen. 
Initial veröffentlicht: 13.11.2023 | Zuletzt aktualisiert: 13.11.2023

Noch nicht genug?

Passende Podcast-Episoden zu diesem Thema

Tim Brandes
Gora Sen
Leo-Jonathan Teßmann
mit Gaudi-Übung
Donnerstag, 02. November 2023
#64 Leo-Jonathan Teßmann & Gora Sen (Autoren von "Denkfabrik Nachwuchsfusball") - Spielregeln sind wichtiger als Spielmaterial

Leo und Gora sind zu Gast und wir hangeln uns kreuz und quer durch ihr Buch "Denkfabrik Nachwuchsfussball". Warum sich einer der beiden als klassischen Drop-Out Fall sieht und wie das trotzdem hilfreich in seinem Weg war, hört ihr in dieser Folge.

Zur Episode
Tim Brandes
Loïc Favé
mit Gaudi-Übung
Donnerstag, 12. Oktober 2023
#63 Loïc Favé (Assistenztrainer FC Basel) – Als Trainer von der Breite zu den Profis und Einblicke in die Fußballausbildung in Frankreich, Portugal und Spanien

Eine fußballerische Reise quer durch Europa hat Loïc Favé zu dem Trainer gemacht, der er heute ist. Mit Einsicht in französische, belgische, niederländische, spanische und kroatische Vereine, ist er ein Gesprächspartner mit dem wir gerne über das reden, was er mitgenommen hat und was er vielleicht auch lieber dagelassen hat.

Zur Episode

Die Kinderfußball-Community

Traineraustausch rund um den modernen Kinderfußball

Unsere Trainer-Community ist ein frei zugänglicher Discord-Chat für alle interessierten Menschen, die Themen rund um den modernen Kinderfußball teilen und in entspannter und freundschaftlicher Atmospähre diskutieren.

Komm dazu

...und tausch dich aus!

Jetzt beitreten